Startseite Gründung Mitglieder Forschungsrichtungen Events Publikationen Wissenschaftl.Bilanz
Wissenschaftliche Bilanz

Von Anfang an wurde im Kolleg Wert darauf gelegt, gender, d.h. die kulturelle Konstruktion von Geschlecht, aus männlichen und aus weiblichen Perspektiven zu untersuchen. Mit seinem Leitbegriff der ”Geschlechterdifferenz” trat das Kolleg in einen kritischen Dialog mit Konzepten der feministischen Frauenforschung.

In der Kollegarbeit wurde großer Wert auf eine Verbindung der einzelnen Arbeitshypothesen mit der allgemeinen Theoriebildung und auf die Einbettung der Forschungsarbeiten in kulturelle Gesamtzusammenhänge gelegt. Andererseits jedoch wurde die besondere Bedeutung des Mediums Literatur für die Gender Studies von Anfang an betont und konnte zunehmend überzeugend belegt werden. Das Kolleg ging von der Grundvorstellung aus, daß Geschlechterkonzepte in religiösen, mythischen, natur- und sozialwissenschaftlichen wie in juristischen Diskursen niedergelegt sind, eine Differenzierung und Problematisierung aber vor allem in literarischen Texten und deren Problemlösungsspielen erfolgt. Hier nämlich lassen sich gesellschaftliche Zuschreibungen in ihrem Zusammenwirken mit individuellen geschlechtsspezifischen Bewußtseinslagen beobachten; literarische Techniken (z.B. der Perspektivierung, des Kontrasts, der Komisierung, der intertextuellen Überschreibung) erlauben, das systematisch Ausgeschlossene oder Verdrängte zu thematisieren und der gesellschaftlichen Reflexion zu erschließen. Die literarischen Muster haben also nicht nur Legitimations- und Erklärungsfunktion, sondern machen kulturelle Modellierungen schärfer erkennbar und in ihren konkreten sozialen Funktionen präziser bestimmbar; überdies wirken sie auf vielfältige Weise auf die Lebenswelt und ihre Strukturen ein.

Mit dem Abschluß des Kollegs ist deutlich geworden, daß das Projekt ”Geschlechterdifferenz und Literatur” sich im Verlauf der Kollegphasen im produktiven Dialog mit neuen methodischen und inhaltlichen Forschungsparadigmen in prägnanter Weise weiterentwickelt und neu akzentuiert hat.

In der ersten Phase (1992–1995) ging es im wesentlichen darum, Paradigmen wie die Autorschaft, Praktiken wie die Erotik und Differenzen wie die von Privatheit und Öffentlichkeit vom Pol der Weiblichkeit aus zu betrachten; der historische Wandel der Konstruktionen von Weiblichkeit stand im Mittelpunkt. In der zweiten Phase (1995–1998) war die Geschlechterdifferenz und mit ihr die Logik der Zuschreibung von Geschlechtsidentität das zentrale Thema; begleitet von den methodologischen Ansätzen des Poststrukturalismus verlagerte sich die Diskussion auf psychoanalytische Modelle, die das komplexe Zusammenspiel von Geschlecht und sexuellem Begehren beschreiben. Die dekonstruktive Befragung der normativen Kraft des Binarismus geschlechtlicher Identität führte zu einer Fokussierung der Differenz in der Geschlechterdifferenz und somit in der dritten Phase (1998–2001) zu einer Pluralisierung des gender-Begriffs. Besondere Aufmerksamkeit richtete sich auf die Gay and Lesbian Studies. Im Sinne eines grundsätzlichen ”queering” von binären Kategorien wurden nun auch Grenzphänomene jenseits der Geschlechterpolarität erfaßt, beispielsweise Phänomene des Crossover oder Konstruktionen von Geschlechtslosigkeit.

Auch der Literaturbegriff wurde im Zuge dieser methodologischen Reflexion neu akzentuiert. Das zunächst ausschließlich auf die Literatur gerichtete Forschungsinteresse öffnete sich auf andere Medien und kulturelle Ausdrucksformen und damit auf kulturanthropologische Fragestellungen. Die Betrachtung der Kategorie ”Geschlecht” im Zusammenhang mit anderen anthropologischen Grundkategorien wie Ethnizität, Klasse, Alter erwies sich als außerordentlich fruchtbar. Ähnliches gilt für die Analyse interkultureller Zusammenhänge. Die zunehmend interdisziplinäre Zusammensetzung des Kollegs bewährte sich an dieser Stelle ganz besonders, denn die Erforschung kulturwissenschaftlicher Fragen kam durch die komparative Zusammenführung vieler Einzelphilologien entscheidend voran und bewirkte Sensibilisierungen für die fremdkulturellen Spuren im literarischen Text.

Mit dieser Integration kulturwissenschaftlicher Perspektiven ging eine Verschiebung in der Auffassung von gender einher. Hatte man darunter zunächst die Produktion von Geschlechtsidentität als Zuschreibung verstanden, so wurde unter den neuen Prämissen die Produktion von Geschlechtsidentität(en) infolge einer (je unterschiedlich motivierten und durch gesellschaftliche Restriktionen eingeschränkten) Wahl zum bevorzugten Forschungsgegenstand. Somit erschien gender als ein performativer Prozeß (”doing gender”). Diese Sichtweise ermöglichte eine Reintegration politischer Perspektiven, sowohl im Sinne eines Einwirkens auf Agenturen gesellschaftlicher Kommunikation, als auch im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit des sich geschlechtlich inszenierenden Individuums (”agency”, ”empowerment”). Ablesbar ist dies an dem in allen Phasen des Kollegs virulenten Forschungskomplex ‘Körper’. Das Interesse richtete sich (im Anschluß an die Diskurstheorie Foucaults) zunächst auf Diskursivierungen des Körpers. Es verlagerte sich sodann aber darauf, den Körper nicht so sehr als kulturell beschriebenen zu entdecken, sondern ihn vielmehr (in einer Verbindung von Foucaults Machttheorie mit Butlers Performativitätskonzeption) seinerseits als Agens kultureller Einschreibungen zu begreifen. Die literaturwissenschaftliche Implementierung dieser Konzepte konzentrierte sich auf die Untersuchung von Körperbildern anhand der Formen literarischer Repräsentation, was sich beispielsweise bei narrativen Texten bis in die Erzählverfahren hinein verfolgen läßt (Strategien der Autorisierung von Erzählsubjekten, Sprecherrollen, Redemuster).

 

[Letzte Änderung: 04.10.2004]